Das vergessene Lebenselixier. Sie ist ein Grundbedürfnis wie Atmen oder Essen. Fehlt sie leiden Körper und Seele: Sanfte Berührung hilft lieben, leben und heilen. Wissenschaftliche Erkenntnisse und neue Therapien für das gesunde „Körper-Ich“.
Was half so wunderbar, als es beim ersten Fahrrad-Sturz das Knie oder beim ersten „Fünfer“ das Selbstbewusstsein bös erwischte? Was brachte beim ersten Rendezvous das Herz zum Rasen? Was lässt Trauertränen rascher trocknen und Ängste leichter ertragen?
Genau: sanfte Umarmung, spürbare Nähe und Hände, die halten und streicheln, sind nicht zu ersetzen. Egal ob Mama, Oper, Lover oder Freund: Liebevolle Berührungen lösen seelischen und körperliche Reaktionen aus, lindern, beruhigen, geben Kraft. Wer ohne sie leben muss, hat´s schwer. Ebenso wie jemand, der Berührungen nur in Form von Schlägen oder in Verbindung mit Forderungen erfährt.
Von Anfang an entscheident. Was Berühren und Berührt-Werden so ungeheuer wichtig macht, beschreibt etwa die Körpertherapeutin Ingrid Huber aus Graz so: „der Tastsinn der Haut ist der erste Sinn, der in der Entwicklung reift. Lange bevor ein Baby sehen kann, nimmt es die Umgebung und sich selbst – über seine ganze Hautoberfläche war“.
Zärtlichkeit macht stark. Mit der Geburt endet das universelle „Gehalten-Sein“ in Mamas Bauch. Im besten Fall wird das Kind dann von liebevollen Händen in Empfang genommen. Denn das Erfahren von Zärtlichkeit ist die beste Frühförderung überhaupt, weiß Huber: „Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die Phase der Bindung und des nahen Körperkontakts nicht nur für das emotionale Wohlbefinden des Babys wertvoll ist. Taktile Stimulation in den ersten Wochen und Monaten fördert außerdem die Reifung und Funktion der inneren Organe und des Immunsystems, die Entwicklung des Bewegungsapparates und der Gehirnfunktionen. Diese bilden die Voraussetzung für soziales Verhalten. Erlernen der Sprache und alle kognitiven Leistungen“.
Das „Haut-Ich“ sagt uns wer wir sind.
Bedrohlicher Mangel. Dass positiver Körperkontakt auch später essenziell bleibt, ist ebenfalls belegt. So zeigten Untersuchungen an Heimkindern ohne nahe Bezugsperson, dass diese öfter schwer erkrankten und früher starben als Altersgenossen, die im Familienverband aufwuchsen. Eine andere Studie berichtet von deutlich höherem Aggressionspegel bei Schulkindern, die daheim wenig physische Zuwendung erlebten. Ein Umstand den Anton Stejskal, Trainer für “Integrative Körperarbeit“ als nachvollziehbar hält: „Liebevolle Zuwendung hilft, die eigene Identität zu finden und sich mit sich wohlzufühlen. Erwachsen und „frei“ zu werden, bedeutet Verantwortung.
Fragt einen nie jemand, wer man eigentlich ist, und erlebt man Berührung nie ohne Zweckorientierung, wird man annfällig für vermeintliche simple Lösungen und Radikalismen“. Kein seltenes Phänomen in Zeiten von Internet-Anonymität, Leistungsdruck und Scheidungsboom.
„Somatic Education“. Wer nicht das Glück hat, bei Partner, Freunden oder Familie beglückende körperliche Nähe zu finden, gerät leicht in die Mühlen von Alltag und Einsamkeit – und verliert das Gefühl für die eigenen Fähigkeiten und Bedürfnisse. Kaum überraschend also, das Körpertherapeuten gefragter sind denn je. Denn Berührungen „berühren“, schaffen Nähe, helfen, sich selbst zu spüren, und wirken – in Verbindung mit Gesprächen – wie Entwicklungsarbeit fürs „ich“, das sich dann ohne Verunsicherung oder Wut entfalten kann. Stejskal: „Deshalb nennen wir diesen Bereich in der professionellen Arbeit ,Somatic Education´. Es geht eher um Orientierungshilfe als um Therapie.“ Wichtig: Die Berührung hat dabei keinen andere Intention als jede, dem Klienten zu helfen. „Oft kommen Menschen mit typischer Konsumhaltung und wollen, da wir machen, dass ihr Kind oder sie selbst etwas besser meistern. Es geht aber nicht um Leistungssteigerung. Wir fördern, dass Menschen, die nur noch als Teil ihrer selbst – etwa als Mutter, Sohn, Arbeitskraft – funktionieren, sich wieder als Ganzes spüren und ihr Potenzial entwickeln können“.
Erstes Ziel: Es soll Klienten wieder möglich werden, zu finden und zu äußern, was sie bewegt – durch Sprache und Berührung. (Info und Therapeuten-Adressen: www.momente.cc)
Mit Händen gegen Schmerz und Angst
„Unberührt“ macht krank. „Zuwendung hat mit Lebenskraft zu tun. Beziehungslosigkeit mach krank“, betont der renommierte Lebens- und Sozialberater Dieter Schmutzer vom Wiener Institut für Lebensgestaltung (http://dieter-schmutzer.at).
Gefühlte Nähe hilft, Angst zu besiegen, wie Stresstest mit kleinen Mädchen zeigten: jene, die zuvor noch von der Mutter gehalten wurden, reagierten weit weniger heftig als Probandinnen, die ohne vorherige Umarmung zum Test antraten. Das Berührungsmangel sogar tödlich enden kann, liegt nahe, wenn man Folgendes bedenkt:
20 „Streichelminuten“ pro Tag. Auch der Autor des Buches „Der unberührte Mensch: Warum wir mehr Körperkontakt brauchen“ (Verlag edition a), der Wiener Facharzt und Physiologie Cem Ekmekcioglu, urgiert mehr Besinnung auf das „Lebenselixier Berührung“. Und verweist auf Studien, die ein erhöhtes Sterblichkeits- und Demenzrisiko bei sozialer Isolation belegen. Dass Berührungen allein dies ändern könnten, wenn die Einsamkeit bleibt, ist nicht erwiesen. Das sie positiven Einfluss haben aber schon. Ekmekcioglus Empfehlung: eine täglichen „Streicheldosis“ von 20 Minuten.
Medizin ohne negative Nebenwirkungen
Was Berührung alles leistet. Der Schätzwert des Mediziners basiert auf Untersuchungen, die nach 20 Minuten Massage signifikante positive Effekte auf Körper und Psyche feststellten. Eine Erkenntnis, die in der Ära steigender Single-Zahlen wohl vielen Laien geläufig ist: Gibt´s länger keinen, der (oder den man) herzen kann, kauft man gern ein paar Minuten beglückender Berührung beim Masseur, Friseur oder Kosmetik. Jedenfalls besser, als ohne, wie Studien des „Touch Research Institute“ in Miami belegen:
Tiffany Field vom „Touch Research Institute“ resümiert „Bringen Sie bewusst mehr Berührung in Ihr Leben – und so mehr Glück für sich und Ihre Nächsten.“ Die berühmte US-Familientherapeutin Virginia Satir sieht´s ähnlich: vier herzliche Berührungen pro Tag seinen das „Existenzminimum“, acht brauche man für Wohlbefinden, zwölf zur Entfaltung der Persönlichkeit.
Sicher ist: Liebebolle Berührung sorgt über die Haut dafür, dass Hormone wie Oxytocin, Serotonin und Beta-Endorphin ausgeschüttet werden, die Glücksgefühle und Zufriedenheit spenden und Schmerzen dämpfen. Umarmung, Händedruck, Gute-Nacht-Kuss, gebuchte Massage: Es gibt kein „Zuviel“. Was gut tut, macht Sinn.
Bessere Beziehungen, mehr Empathie
Berührt & Lebendig. „Der Mensch braucht Berührungen um Beziehungsfähig zu sein, Empathie zu entwickeln, sich als teilnehmendes und teilgebendes Wesen in einer Gemeinschaft zu erleben. In diesem Lebenskontext erfahren wir Sinn. Die Quelle dafür ist Liebe“, fasst Expertin Ingrid Huber zusammen.
Höchste Zeit also, öfter wieder zärtlich zu sein, auch wenn´s nicht um Sex, aber doch um mehr als Society-Gebussel geht.
Dieser Artikel ist in der periodischen Zeitschrift Lebenslust in der Ausgabe 03/15 Leben erschienen, Seiten 32 ff, Redaktion: Elisabeth Schneyder.